Chiralität, Kernspin und die Verletzung der Parität: Eine tiefere Asymmetrie in der Physik

In der Chemie ist Chiralität ein bekanntes Konzept: Bestimmte Moleküle existieren in zwei spiegelbildlichen Formen, die nicht deckungsgleich sind – ähnlich wie unsere linke und rechte Hand. Doch gibt es eine solche Chiralität auch auf fundamentalerer Ebene, etwa im Kernspin oder der Elementarteilchenphysik? Und wenn ja, verletzt dies die klassischen physikalischen Regeln, etwa die Rechte-Hand-Regel?

Die Asymmetrie in der schwachen Wechselwirkung

Die schwache Wechselwirkung, eine der vier fundamentalen Kräfte, zeigt eine bemerkenswerte Eigenschaft: Sie verletzt die Paritätssymmetrie. Das bedeutet, dass Prozesse der schwachen Wechselwirkung nicht identisch ablaufen, wenn man sie im Spiegel betrachtet. Diese Asymmetrie wurde erstmals 1956 im berühmten Wu-Experiment nachgewiesen, das zeigte, dass die Betazerfalls-Elektronen aus Kobalt-60 bevorzugt in eine bestimmte Richtung emittiert werden – relativ zum Spin des Atomkerns.

In einer symmetrischen Welt würde man erwarten, dass die Elektronen gleichmäßig in alle Richtungen ausgesendet werden. Doch das Experiment belegte, dass Elektronen mit hoher Wahrscheinlichkeit in eine spezifische Richtung fliegen – entgegengesetzt zum Kernspin. Im Spiegelbild dieses Prozesses würde man das Gegenteil erwarten, doch die Natur „bevorzugt“ eine bestimmte Händigkeit.

Die Verletzung der rechten-Hand-Regel?

Normalerweise beschreibt die Rechte-Hand-Regel die Richtung des Drehimpulses oder des magnetischen Moments eines Teilchens. Doch im Kontext der schwachen Wechselwirkung scheint sie nicht universell zu gelten. Die Elektronenemission im Betazerfall verhält sich nicht spiegelbildlich, und der Spin des Atomkerns beeinflusst eindeutig die bevorzugte Richtung der emittierten Teilchen.

Ähnlich könnte man sich fragen, ob Nord- und Südpole von magnetischen Momenten oder Spins ebenfalls eine solche Asymmetrie aufweisen. Tatsächlich zeigt sich, dass die schwache Wechselwirkung nur mit linkshändigen Neutrinos und rechtshändigen Antineutrinos interagiert – ein weiteres Indiz dafür, dass es in der Natur eine fundamentale Chiralität gibt.

Die tiefere Bedeutung dieser Asymmetrie

Diese Verletzung der Parität ist nicht nur eine theoretische Kuriosität, sondern könnte entscheidend für die Entwicklung des Universums gewesen sein. Wissenschaftler vermuten, dass sie eine Rolle in der Materie-Antimaterie-Asymmetrie gespielt hat: Ohne diese bevorzugte Händigkeit könnte es sein, dass Materie und Antimaterie sich vollständig vernichtet hätten – und unser Universum gar nicht existieren würde.

Die Erkenntnis, dass Naturgesetze nicht immer spiegelbildlich symmetrisch sind, hat tiefgreifende Implikationen für unser Verständnis der Physik. Sie zeigt, dass Chiralität nicht nur eine chemische, sondern auch eine fundamentale physikalische Eigenschaft ist – eine, die das Universum in einer bestimmten Weise geprägt hat.